Peter Tschaikowsky EUGEN ONEGIN

Staatstheater Kassel, Premiere: 04.Juli 2015 um 19:30 im Opernhaus

 

Pressespiegel:

 

http://www.omm.de/veranstaltungen/musiktheater20142015/KS-eugen-onegin.html

 

http://www.fr-online.de/theater/staatstheater-kassel-lesen-gefaehrdet--schreiben-hilft,1473346,31145960.html

 

http://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Kultur/Kultur-vor-Ort/Grosse-Darstellungskunst-von-Jaclyn-Bermudez-in-der-Oper-Eugen-Onegin

 

 

BESETZUNG

 

Musikalische Leitung: Ruben Gazarian

Inszenierung: Lisa Marie Küssner

Bühne: Justyna Jasczcuk

Kostüme: Sabine Böing

Dramaturgie: Jürgen Otten

 

Larina: Inna Kalinina

Tatjana: Jaclyn Bermudez/Sara Eterno

Olga: Ulrike Schneider/Hanna Larissa Naujoks

Filipjewna: Lona Culmer-Schellbach

Eugen Onegin: Marian Pop/Hansung Yoo

Wladimir Lenskij: Bassem Alkhouri/Tobias Hächler

Fürst Gremin: Friedemann Röhlig/Hee Saup Yoon

Hauptmann: Michal Kuzma

Saretzkij: Abraham Singer

Triquet: Ovidiu Weinschenk

Guillot: Tabea Götting/Corinna Hartmann

 

Opernchor, Extrachor, Staatsorchester und Statisterie des Staatstheaters Kassel

 

 

KRITIKEN

Kritik in der WLZ vom 21.07.2015


SCHLUSSPUNKT MIT TSCHAIKOWSKY

Musiktheatersaison im Opernhaus endet mit durchweg schlüssiger Aufführung von Eugen Onegin



von Armin Hennig 




Mit einer rundum schlüssigen Produktion von Peter Tschaikowskys Eugen Onegin endet eine Musiktheater-Saison am Staatstheater, die kaum Wünsche offen ließ, aber für zahlreiche gewohnheitsmäßig hingenommene Sinnlücken überzeugende Antworten fand. So auch Lisa Marie Küssners Inszenierung der romantischen russischen Oper schlechthin, deren dritter Akt eher an zusammengetackerte Ausrisse von Puschkins Dichtung erinnert und auch entsprechend zusammenhanglos wirkt. In einer vom ersten Takt an durchgängigen Konzeption gerät das ausführliche musikalische Postskriptum zum Duell zwischen Onegin und Lenski zum eigentlichen dramatischen Höhepunkt. Das Staatsorchester Kassel unter der Leitung von Xin Tan hatte ebenfalls großen Anteil an dem nachhaltigen Eindruck des massiv aufgewerteten Finalakts, denn nach zwei Akten zuverlässiger Begleitung aus dem Graben entwickelte sich aus Polonaise und Walzer eine frische orchestrale Brillanz. Als die ersten Takte der Ouvertüre und des Sehnsuchtsmotivs erklingen, sucht sich Tatjana (Jaclyn Bermudez) ihren Weg vom Zuschauerraum auf die von Jusitna Jasuczuk gestaltete Bühne: eine aus Büchern geformte Spielfläche, denn die Literatur ist das Element, in dem die Außenseiterin lebt, bis der rätselhafte Fremde mit dem seltsamen Begleiter vom Bräutigam ihrer Schwester Olga (Ulrike Schneider) in die Gesellschaft auf dem Landsitz ihrer Mutter (Ina Kalinina) eingeführt wird. Sogar die Ernte besteht aus Büchern, ganze Stöße aus denen die Landarbeiter Tatjanas Sofa bauen. Die leichtlebigere Olga ist als eine Art „it-girl“ angelegt, das sich dem allzu fordernden Werben ihres Bräutigams Lenski und seinem tenoralem Schmelz mittels Kopfhörer entzieht, während sie Liebesgraffitis auf die Mauer malt, die in diesem Stadium des ersten Aktes auf Hüfthöhe endet. 
Wände wachsen in den Himmel 
Bis zur Briefszene haben die Wände schon Zimmermaße und im ratlosen Moment der Verliebtheit und der Suche nach dem passenden Ausdruck dafür passt sich Tatjana an das Ausdrucksrepertoire ihr gesellschaftlich akzeptierteren Schwester an, pinselt „Sehnsucht“ und „Leben mit Dir“ unter die durch ein Unendlichkeitssymbol verbundenen Initialen. Und mit den Erwartungen wachsen die Wände so weit in den Himmel, dass Tatjana so verloren wirkt wie Beethovens Florestan zu Beginn des zweiten Akts von Fidelio. Ein Symbol für das vorhersehbare Scheitern des unreifen, lebensfremden Griffs nach dem Glück. Das Leben mit seinen Zumutungen greift von allen Seiten nach Tatjana, die Mauern, verwandeln sich in die Vorhänge des Ballsaals, in dem ihr Namenstag gefeiert werden soll. Im letzten Drittel des zweiten Akts, schimmert nur noch fahle Morgenröte vor dem Duell. Der Zweikampf ist die einzige Szene, in der Tatjana nicht auf der Bühne ist. Im dritten Akt signiert die erfolgreiche Autorin das Buch, mit dem sie sich von ihrer Liebe und den Schrecken ihrer Jugend frei geschrieben hat, während ihr Gatte Fürst Gremin seinem Verwandten Onegin von seinem Glück mit Tatjana singt und unwissentlich dem Ruhelosen vorführt, welches Glück er in seiner ahnungslosen Getriebenheit verschmäht hat. Am Signierpult signalisiert indessen Onegins dämonischer Begleiter (Corinna Hartmann) der als nächste Station in Aus-sicht genommenen Autorin die Anwesenheit seines Herrn. Eine mephistotelische Gestalt, die nach dem gescheiterten Anlauf auf Tatjana die klassische „Her-zu-mir“-Geste machen wird und Onegin in die Traditionslinie Faust-Lord-Byron stellt. Im Duell wird denn auch der düstere Adlatus die tödliche Kugel auf Lenski abfeuern, um zu Beginn des dritten Akts Polonaise und Walzer als düsteren Totentanz anzuführen, an dessen Ende Onegin symbolisch hingerichtet wird. 
Stimmliche Glanzpunkte 
Der Sänger der Titelrolle ist in gewisser Hinsicht ähnlich schlecht dran wie Don Giovanni: Im Gegensatz zu Tatjana, Lenski oder Gremin hat Onegin keine große Arie und auch sonst bringt der Getriebene wenig Identifikationspotenzial mit sich, wirklich bewegend wird Onegin erst im Schlussduett, bis dahin spielt seine unheimliche Präsenz eine große Rolle. Marian Pop sang und agierte durchgängig rollendeckend und entfesselte im Schlussduett mit Tatjana eine vorher kaum für möglich gehaltene stimmliche Verführungs- oder Überzeugungskraft, die Tatjanas Schwanken nachvollziehbar macht. Die Besetzung des Fürsten Gremin mit einem größeren Double von Onegin ist eine Glanzleistung von Regie und Kostüm. Der voll im Saft stehende Bass von Friedemann Röhlig stellt während der Erzählung seiner Lebens- und Liebesgeschichte auch stimmlich eine beeindruckende Drohkulisse gegenüber dem als kleinformatigeren Doppelgänger gewandeten und gestylten Onegin dar. Auf der Bühne hat Tobias Hächlers Lenski zunächst kein Publikum für seine Gesangskünste, denn das mit Kopfhörern bewehrte Partygirl Olga (Ulrike Schneider) versucht sich bei jeder Gelegenheit den allzu unbedingten Ansprüchen ihres Galans zu entziehen, bis zur Brüskierung auf dem Ball, als sie Lenski den bereits zugesagten Tanz entzieht und lieber mit Onegin weiter macht. Die Liebe im ständigen Widerspruch lässt Lenski in jeder Hinsicht angespannt erscheinen, tenoraler Glanz auf höchstem Niveau bleibt denn auch der großen Arie vor dem Duell vor-behalten, als der Romantiker bereits mit seinem Leben abgeschlossen hat: „Wohin, wohin seid ihr entschwunden?“ gerät zum tenoralen Glanzpunkt und zu einer Leistung, die der seiner Kollegin in der Briefszene durchaus ebenbürtig ist. „Und soll᾽s mein Leben sein“ ist der lang erhoffte große Auftritt für Jaclyn Bermudez, die in vorhergehenden Spielzeiten bereits in kleineren Rollen ihr großartiges Potenzial angedeutet hatte. Bruchlos gleitet ihr harmonischer Sopran durch alle Register und drückt Euphorie und Zweifel in der Entscheidungssituation aus. Auch darstellerisch bleibt die Sängerin mit der schönen Stimme nicht hinter den Anforderungen der Inszenierung zurück und unterstreicht die Glaubwürdigkeit des Konzepts bis zur Flucht von Onegins phantastischer Bücherbühne auf das Parkett des Lebens und in die Arme ihres Mannes.




Kritik im ONLINE MUSIK MAGAZIN vom 06.07.2015


"EUGEN ONEGIN" AM STATSTHETER KASSEL

TATJANAS BÜCHERWELT UND IHRE ÜBERWINDUNG


von Bernd Stopka


Mit der Neuinszenierung von Tschaikowskys Eugen Onegin schließt das Staatstheater Kassel diese Spielzeit mit einem Glanzpunkt ab. Regisseurin Lisa Marie Küssner gelingt dabei insbesondere eine Personenregie, die bis ins Feinste ausgefeilt ist und dabei doch ganz lebendig, ja natürlich wirkt. Sie setzt den Fokus auf Tatjanas Leidenschaft für das Lesen, zeichnet sie als ein Mädchen, das mit, in und sogar auf ihren Büchern lebt und entsetzt und überfordert ist, wenn die Realität anders aussieht, als ihre romangeschürten Träume – aber auch als eine Frau, die diese Illusionen aktiv überwinden kann, indem sie selbst zur Schriftstellerin und Gestalterin wird, anstatt ihr Leben von fremden Romanfiguren beherrschen zu lassen. Tatjanas geradezu zur Manie gewordene Bücherliebe setzt Bühnenbildnerin Justyna Jaszczuk eindrucksvoll, aber nicht aufdringlich um, indem sie eine fast bühnenbreite, flache Spielfläche aus Büchern auf die Bühne stellt, deren Seiten von Papierbahnen begrenzt sind, die im Laufe der ersten Szenen immer weiter in die Höhe gezogen werden. Kostümbildnerin Sabine Böing sorgt dafür, dass wir uns in der Jetztzeit wiederfinden. Zwischen der gutmütigen Amme Filipjewna, der lebenslustigen Mutter Larina und ihrer der Mutter nacheifernden Schwester Olga, die aber eher als flippig wirken wollender Bauerntrampel gezeichnet ist, lebt Tatjana ein Außenseiterleben – von ihrer Mutter belächelt, von ihrer Schwester verspottet. Olga fotografiert alles und jeden mit ihrer Polaroid-Kamera (die Damen im letzten Bild sind fortschrittlicher und machen Selfies mit ihren Handys), sie tanzt mit einem Kopfhörer auf den Ohren und sieht alles als ein Spiel – auch die Blutsbrüderschaft, die sie mit Lenski schließt. Mit dem Blut aus ihrer Hand malt sie ein Herz mit „O+W“ – Olga und Wladimir – auf die Rückwand aus Papier. Lenski hat es nicht leicht mit ihr, zumal er eher wie ein unglücklicher Getriebener, ja von Anfang an schon als der Typ „ewiger Verlierer“ mit einem Hauch liebenswerter Trotteligkeit erscheint. Sein Freund Onegin ist ein Unsympath, der allenfalls eine dämonische Anziehungskraft ausüben kann. Das mag auch an seinem ständigen Begleiter Guillot liegen, einer androgynen Gestalt, die Kammerdiener, heimliche/r Liebhaber/in oder auch Onegins Alter Ego sein kann. Auf jeden Fall hält er/sie/es allgegenwärtig die Fäden in der Hand. Auch in ihrem Schlafzimmer findet Tatjana Guillot wieder, der mit Überheblichkeit und Selbstsicherheit möglicherweise sein emotionales Territorium verteidigen will. Dennoch trotzt ihm Tatjana ein Polaroidfoto ab (Wer darauf abgebildet ist, kann man aber selbst aus der sechsten Parkettreihe nicht erkennen). Ihr Bett ist selbstverständlich aus Büchern gebaut, auf denen sie aber in dieser Nacht keine Ruhe findet. Tatjana schreibt den Brief an Onegin nicht wirklich, sie entwirft ihn im Selbstgespräch, schreibt Notizen an die Papierwände wie „E. O.“, „ Dein sein“, „Warum Du?“ „T + E, leben mit Dir“ oder „I love (=Herz) U“ – wobei sie in das „U“ ein Polaroidfoto (von Onegin?) klebt. Zwischendurch hält sie ihre zusammengewickelte Decke wie ein Baby im Arm, was ihre Sehnsucht nach Ehe und Familie umso deutlicher werden lässt. Anstatt eines Briefes gibt sie ihrer Amme ein Foto (von sich?), das Onegin überbracht werden soll. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – und Onegin weiß ohnehin, worum es geht. Die Papierbahnen werden von hinten eingeschnitten, Köpfe der Choristinnen erscheinen und malen mit ihren Lippenstiften wirre Schlingungen aufs Papier. Tatjana beobachtet entsetzt, ja verzweifelt, wie ihre hehren emotionalen Ergüsse auf diese profane Weise nicht nur entweiht werden, sondern ihr auch ein ganzes Stück der Hoffnung rauben. Onegin erscheint als übergroßer Schatten auf dem papiernen Hintergrund und schreibt auf die Rückseite ein einziges egoistisches „ICH“ bevor er mit Guillot eintritt und ihr höflich, aber kaum mehr, erklärt, dass es nicht an ihr liegt, er für eine Beziehung nicht geschaffen sei usw. – alles das, was man in solchen Situationen auch heute noch so sagt oder zu hören bekommt. Tatjana sinkt zu Boden und bleibt allein zurück. Dann verschwimmen Fiktion und Realität: Tatjanas Kuschelbär nimmt lebendige Gestalt an, erscheint aber nicht als Tröster, sondern als Entführer in die Wirklichkeit, die sich als bunter Maskenball zu Tatjanas Geburtstag darstellt. Er tanzt mit dem Geburtstagskind, das sich, wie schon im ersten Bild, durchaus dem Vergnügen hingeben kann und dies mit sehr viel echterer Leidenschaft als Olga, die auch hier mehr gewollt als wirklich fröhlich erscheint. Zu Monsieur Triquets Couplet steht Tatjana auf einem Podest, das (selbstverständlich) aus Büchern gebaut aus dem Bühnenboden aufgefahren wird. Eine herrliche Szene – besonders köstlich wenn der körpergewaltige, leidenschaftliche Dichter Tatjana seine Rosen singend erst einzeln überreicht und ihr dann den ganzen Reststrauß mit leidenschaftlichem Spitzenton an die Brust schlägt. Der Streit zwischen den beiden Freunden eskaliert zu einem südländischen Zweikampf, während dem Lenski Onegin mit einem Springmesser angreift, das er sich dann doch, mit seiner Selbsttötung drohend, an den Hals hält. Er reißt die inzwischen bühnenhohen Papierbahnen herunter und zertrümmert damit das ganze emotionale Konstrukt, das hier nicht auf tönernen Füßen steht, sondern an papiernen Bahnen hängt. Das Duell zur Ehrenrettung scheint unausweichlich und wirkt auch gar nicht antiquiert. Auf den Trümmern von Tatjanas Gefühlen, ganz bildhaft auf dem Müll der Papierbahnen und des Kostümfestes und auf dem Boden ihres Lebens, gräbt sich Lenski Bücher herausreißend sein Grab. Onegin unternimmt einen Versöhnungsversuch, dem Lenski ausweicht. Guillot wird zu Onegins Sekundanten, aber auch zur treibenden und bestimmenden Kraft wenn er Onegin zum Schießen zwingt, während Lenski mit ausgebreiteten Armen auf ihn zugeht. Als Versöhnungsversuch, als bewusster Gang in den Tod? Die Interpretation bleibt dem Zuschauer überlassen. Tatjana, wirft Lenski eine der Rosen ins Grab, die sie von Triquet erhalten hatte.) Eine Pause und 16 Jahre später findet sich Onegin auf dem Ball des Fürsten Gremin wieder, doch die Polonaise wird für ihn zum von Guillot inszenierten Totentanz um Lenskis Grab, der in der Vision der Auferstehung des getöteten Freundes und einer Wiederholung des Duells gipfelt, das die Züge einer Exekution annimmt. Während Onegin mit verbundenen Augen zusammenbricht, flieht der blutüberströmte Lenski. Eine Szene, die im krassen Gegensatz zur Musik steht, aber doch wirkungsvoll die anschließend von Onegin besungene Seelenverfassung illustriert. Vielleicht ist es aber auch der befreiende Albtraum, der Onegin erst die Möglichkeit gibt, sich für Tatjana zu öffnen. Vielleicht ist diese aufflammende Leidenschaft für sie aber auch nur seiner einsamen Verzweiflung geschuldet und dem Umstand, dass er ihren Wert erst schätzt, weil sie nun einem anderen gehört. Es fallen Blätter vom Bühnenhimmel, die Tatjana offensichtlich als den Brief an Onegin wieder erkennt (wobei sie den doch gar nicht wirklich zu Papier gebracht hatte…). Im Original hat sich Tatjana der Realität gefügt, ist brav mit einem alten gemütlichen Mann verheiratet, der über das Leben, die Welt und die liebreizende Tatjana ein schönes Liedchen singt – und sie bleibt standhaft und anständig, wenn Onegin sie nun doch haben will. Das Regieteam hier arbeitet eine Ebene heraus, die intensiver und tiefer gehender ist: Tatjana hat sich durch das Verfassen eines eigenen Romans aus ihrer fiktiven Welt befreit (und damit auch gleich einen Bestseller gelandet). So hat sie ihr Gefangensein in Träumen und Sehnsüchten überwunden und ist zu einer Frau gereift, die einen höchst attraktiven jungen Mann geheiratet hat, der ihren ganz besonderen Wert, den ihr ihr Weg verliehen hat, schätzt und als sein größtes Glück preist – im Gegensatz zur Schlechtigkeit der Welt, die er recht aggressiv besingt, während Tatjana im Hintergrund eine Signierstunde absolviert. Onegins Werben erinnert Tatjana nicht nur an eine alte unglückliche und demütigende Liebe, sondern bedroht sie auch mit dem Zurück in ihre alte Geisteswelt. Das, nicht Onegin, macht ihr Angst, sodass sie vor ihm in die Arme Gremins flieht, der zumindest den Schluss der Szene vom Zuschauerraum aus beobachtet hat und jetzt seine Arie eigentlich mit doppelter Überzeugung noch einmal singen könnte (was auch das Publikum sehr freuen würde). Guillot streckt ihm die Hand entgegen. Er hat ihn wieder. Selten hat man das Finale dieser Oper so unter die Haut gehend, so wahrhaftig und echt erlebt. Jaclyn Bermudez ist eine fantastische Tatjana. Ihr klangschöner Sopran gleitet bruchlos durch alle Register, bedient sich farbenreicher Interpretationsvarianten und lässt keine Wünsche offen. Auch szenisch kann diese Sängerdarstellerin mit intensiver, aber nie überzogener, sondern ganz natürlich wirkender Ausdruckskraft bezaubern und erweist sich als echter Glückfall für diese Partie. Als ihre Mutter Larina lässt Inna Kalinina mit klangvollem, tragfähigem Mezzo aufhorchen. Ulrike Schneider singt die Olga hochkultiviert und mit edlem Stimmklang. Als Lenski lässt Bassem Alkhouri seinem höhensicheren, voluminösen Tenor leidenschaftlich freien Lauf. Marian Pop singt den Onegin zunächst mit Zurückhaltung, läuft dann aber im Finale zu großer Form und nachhaltiger stimmlicher Präsenz auf. Friedemann Röhlig lässt seinen großen Bass üppig strömen und setzt die oben beschriebene Interpretation seiner großen Arie eindringlich und überzeugend um. Ovidiu Weinschenk, ein Urgestein des Kasseler Opernchores, der auch regelmäßig im Bayreuther Festspielchor unübersehbar ist, singt die erste Strophe des Triquet-Couplets mit vollstimmiger Leidenschaft und die zweite im zartesten Pianissimo. Herrlich! Wie schade, dass das Couplet nur zwei Strophen hat. Ruben Gazarian gelingt der Spagat zwischen leidenschaftlichen Klängen und feiner Detailarbeit. Kaum merklich zieht er das Publikum in den Sog dieser Musik, die den Hörer mit subtilen Mitteln in ihrem Bann hält. Das Orchester folgt dem Dirigenten mit gleicher kultivierter Leidenschaft und Konzentration, sodass man ihm weniger zu verzeihen hatte, als man bei der großen Hitze durchaus gewillt gewesen wäre. Prachtvoll und ausgewogen klingen Chor und Extrachor. FAZIT Eine überzeugende, konsequente und nachvollziehbare szenische Interpretation, die mit exzellenter Personenregie die Figuren lebendig werden lässt und zusätzliche, aber nicht gewaltsam aufgepfropfte Interpretationsaspekte ermöglicht. Auch gesanglich sind Tatjana und Gremin das glücklichste Paar des Premierenabends.


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Kritik im GÖTTINGER TAGEBLATT vom 13.07.2015


ONEGIN IN DER GEGENWART: GROSSE DARSTELLUNGSKUNST VON JACLYN BERMUDEZ IN DER OPER "EUGEN ONEGIN"


von Michael Schäfer




Das Opernhaus Kassel hat mit Tschaikowskys „Eugen Onegin“ eine der populärsten Opern der russischen Romantik herausgebracht. Das Bühnenbild von Justyna Jaszczuk ist von Büchern beherrscht – die „lyrischen Szenen“, so der Untertitel der Oper, spielen sich auf Bücherstapeln ab.

Damit ist ein wichtiger Aspekt der Oper deutlich ins Bild gesetzt: Tatjana, die introvertierte Schwester der lebenslustigen Olga, hat ihr Leben lang Romane verschlungen, um ihre Sehnsüchte, Träume und Wünsche in diese Fantasiewelten zu projizieren.
Der Bücher-Boden bietet keinen Raum für Gartenszenen, niedliche Schreibtischchen, Ballsäle oder Birkenwäldchen. Regisseurin Lisa Marie Küssner siedelt ihren „Onegin“ irgendwo in der Gegenwart an. Olga hört ihre Musik über Kopfhörer und fotografiert leidenschaftlich mit einer Polaroid-Kamera. Und die Bauern überbringen der Gutsherrin beim Erntefest auch keine Getreidegarben, sondern Bücher.
Keine dumme Idee. Auch wenn sie ein wenig überdeutlich präsentiert wird. Ihre Liebe zu Onegin schreibt Tatjana konsequenterweise nicht auf Briefpapier, sondern malt mit dickem Edding das Wort „Sehnsucht“ auf die Papierbahnen, die ihr Bücherreich als dünne Wände umgeben, im Lauf des Spiels immer höher wachsen und den Raum als Gefängnis erscheinen lassen, um im Moment der Katastrophe heruntergerissen zu werden. Ein eindrucksvoller Augenblick.
In diesem abstrakten Ambiente führt Regisseurin Küssner die Personen der Handlung sehr zielgerichtet. Dabei kann sie sich besonders auf die große Darstellungskunst von Jaclyn Bermudez (Tatjana) verlassen. Während des Orchestervorspiels ist sie auf der Bühne zu sehen, stumm, aber derart ausdrucksstark, dass sie auch ohne Gesang alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Ihr heller Sopran verfügt bruchlos über einen weiten Ambitus, ihren stimmlichen Ausdruck kann sie aufs Feinste differenzieren, ihre Dynamik reicht von zartem Pianissimo bis zu hell leuchtenden Spitzentönen: ein Hochgenuss. Marian Pop in der Titelpartie zeigt einen edel timbrierten Bariton, der vor allem in den Verzweiflungsausbrüchen der Schlussszene profunde Größe offenbart. Lenski, sein Widerpart, wird von Bassem Alkhouri ausgesprochen ausdrucksstark nachgezeichnet. Sein Tenor klingt auch in den Spitzenlagen stets unangestrengt. Als Gast aus Hannover sang Hanna Larissa Naujoks mit ihrem sehr flexiblen Mezzosopran die Partie der Olga, die sonst mit Ulrike Schneider besetzt ist – der Titelheldin in Händels „Agrippina“ bei den Göttinger Händel-Festspielen. In kleineren Rollen bewährten sich Inna Kalinina (Larina), Lona Culmer-Schellbach (Amme) und Hee Saup Yoon (Fürst Gremin).
 Der Chor bewältigte seine umfangreichen Aufgaben mit Anstand, das Orchester unter der zuverlässigen Leitung von Xin Tan grundierte die tragische Geschichte mit angemessener lyrischer Weichheit im Klang. Eine Aufführung, die den Hörer mit zarter Gewalt in den Bann zieht.


http://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Kultur/Kultur-vor-Ort/Grosse-Darstellungskunst-von-Jaclyn-Bermudez-in-der-Oper-Eugen-Onegin




Kritik in der FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 08.07.2015


LESEN GEFÄHRDET, SCHREIBEN HILFT

Peter Tschaikowskys „Eugen Onegin“ leuchtet in Kassel ein


Von Georg Pepl


Können Liebesromane gefährlich sein? Ja durchaus, wenn sie die Leser in eine romantische Traumwelt versetzen und Gefühle auslösen, die von der Realität nur enttäuscht werden können. Eine solche schwärmerische Leserin ist Tatjana in Puschkins Versroman „Eugen Onegin“. Ihre von Lektüre angeheizte Fantasie verzehrt sich vor Sehnsucht nach einem Märchenprinzen. Genau das wird ihr zum Verhängnis, als sie Eugen begegnet und sich prompt in ihn verliebt. Nun hatte Tschaikowskys Puschkin-Oper Premiere am Staatstheater Kassel, und die Regisseurin Lisa Marie Küssner setzte dabei den heimlichen Helden dieses tragischen Stoffs ein Denkmal. Die von Justyna Jaszczuk gestaltete Bühne zeigt eine riesige Fläche aus Büchern, auf denen sich die Tragödien Tatjanas, Lenskis und Onegins abspielen. Ein brillanter Einfall. Daneben bietet Küssner eine plastische, fast überdeutliche Personenzeichnung. Olga, Tatjanas lebenslustige Schwester, erscheint als aufgemotzte Partymaus im Kleidchen und mit Kopfhörern – eine wenig dankbare Aufgabe für die großartige Mezzosopranistin Ulrike Schneider, die unlängst bei den Göttinger Händel-Festspielen die Titelpartie in „Agrippina“ gesungen hat. Onegin, der byronhafte Dandy, kommt nie allein, denn ein androgynes Double, gleichsam ein Schatten in Carl Gustav Jungs psychologischer Terminologie, verstärkt seine dunkle Aura. Dieser schattenhafte Kammerdiener (Tabea Götting) ist auch Onegins Sekundant im Duell mit dem eifersüchtigen Lenski. Erfolgsautorin Tatjana Die stärkste Pointe setzt die Regisseurin im dritten Akt, als die einst verschmähte Tatjana als Frau des Fürsten Gremin das frühere Objekt ihrer Liebe wiedertrifft. Bei Küssner ist sie nun eine erfolgreiche Autorin, die Bücher signiert und wohl auch dank des gesteigerten Selbstwertgefühls Onegins plötzliches Werben ablehnt. Lesen birgt Gefahr, Schreiben bringt Heilung. Auf hohem Niveau bewegt sich die musikalische Realisation: Jaclyn Bermudez berührt als Tatjana mit feinem, klangschönem, dabei zu großer Kraftentfaltung fähigem Sopran. Marian Pop verkörpert glaubhaft Onegins emotionale Reise von anfänglicher Zurückhaltung zu hitziger Leidenschaft. Bassem Alkhouri gibt einen hinreißenden Lenski, und Friedemann Röhlig (Fürst Gremin) ist stimmlich wie optisch ein viriler Prachtkerl. Muttersprachlerin Inna Kalinina bringt als kesse Gutsbesitzerin Larina russische Eleganz in den Abend. Für Stimmgewalt und Farbtupfer sorgen die Chormitglieder. Einer von ihnen, Ovidiu Weinschenk, legt als Franzose Triquet ein markantes Ständchen hin. Mit hoher Klangkultur und aparten Holzbläser-Soli punktet das Staatsorchester. Gastdirigent Ruben Gazarian gestaltet packende Crescendi und schöpft neben der Melancholie auch das beschwingt-tänzerische Element von Tschaikowskys lyrischen Szenen aus.


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